Montag, 27. September 2021
Als ich jung war, in den 80-ern, war man in meiner Klasse tendenziell Öko oder Popper. Für echten Rock und Punk war Hagen, wenn wir mal ehrlich sind, nie Großstadt genug. Unter den „Ökos“ gab es ein paar echte Überzeugungstäter, die sich schon damals engagierten, die sich – vor allem nach Tschernobyl – ernsthaft mit Atomkraft und der Friedensbewegung beschäftigten. Die „Popper“ engagierten sich wohl vor allem für sich selbst und den Konsum; vielleicht rebellierten sie auch gegen ihre rebellischen 68-er-Eltern.
Aber die meisten der Jugendlichen in meiner Stufe dockten sich vermutlich eher oberflächlich irgendwo an und bedienten sich optisch einzelner Elemente – Jutebeutel und Jeansjacke mit „Atomkraft-Nein-Danke-Buttons“ einerseits, Schulterpolster und Vanilia-Hosen andererseits. Und waren mehr mit Pickeln, der ersten Liebe und der nächsten Englischarbeit beschäftigt als mit Politik.
Inhaltlich war ich damals eher Öko, und die Wortführerinnen unter ihnen bewunderte ich heimlich – aber diese Ökos waren auch eine irgendwie geschlossene Clique, die sich im Auberge traf, wo ich nicht hindurfte. Die Musik der Popper und New Waver mochte ich – aber ihren Style hätte ich mir niemals leisten können, und so hielt ich es wie die stolze Arbeiterin in Ulla Hahns großartigem Sozialroman „Das verborgene Wort“: „Spargel mögen wir nicht“. Einen Computer, einen VW Golf oder auch nur einen Aktenkoffer oder ein Poloshirt mit Krokodil drauf waren finanziell unerreichbar für mich – und vielleicht auch deshalb versuchte ich in diese Welt gar nicht erst reinzukommen.
Wenn man jung ist, ist so etwas wichtig: Was die Freundinnen machen, worauf der Schwarm steht, welche Kleidung man trägt. Man will irgendwo dazugehören, individuell vielleicht nicht allzu sehr negativ auffallen – und sich Schritt für Schritt eine eigene Meinung bilden, die zu dem Leben passt, das man sich für sich selber vorstellt.
Für unsere Abi-Zeitung wurden wir damals gefragt, was wir uns für unser Leben wünschen. Blättere ich diese Zeitung heute durch, muss ich an mancher Stelle schmunzeln: Unsere Träume waren so sehr Mainstream, und es dauerte für viele von uns noch ein paar Jahre, bis wir uns ehrlich eingestehen konnten, was wir uns wirklich vom Leben wünschen. Das betrifft die ganz persönliche Lebensführung, aber eben auch Werte und Ideale. Und treffe ich den einen oder die andere heute, so haben doch erstaunlich viele von uns irgendwie das Leben unserer Eltern weitergeführt, haben uns eingerichtet in unserem Alltag, und leben weder in Baumhäusern, noch fahren wir Ferrari.
Warum schreibe ich das?
Heute lese ich eine Menge erstaunte Posts über das Wahlverhalten der Erstwählerinnen und Erstwähler. 22 Prozent haben ihr Kreuz bei den GRÜNEN gemacht, und jeder 5. junge Mensch bei der FDP. Ich schaue mir die Jugendlichen an, die zu meinem Leben gehören – und ich sehe wie damals, in meiner Jugend, ernsthafte junge Leute, die mit viel Leidenschaft die Welt retten wollen, die auf die Straße gehen und sich um unsere Welt sorgen. Und ich sehe junge Menschen in Anzug und Krawatte, die sich ihr individuelles Recht auf ein großes Auto nicht nehmen lassen wollen, die keine Vorschriften wollen von einer Generation, die sich ihrerseits reichlich am großen Kuchen bedient hat und jetzt zaghaft „Enthaltsamkeit“ flüstert, freilich ohne selber auf die Fernreise oder das Steak verzichten zu wollen.
Ich bin weder Soziologin noch Politikwissenschaftlerin – doch ich vermute, dass beides „alterstypisches“ Verhalten ist. Persönlich bin ich der Meinung, dass es das Vorrecht der Jugend ist, einerseits radikal und andererseits egoistisch zu sein. Das Leben glättet die meisten Biografien noch früh genug. Das Drama der heutigen Erstwähler ist doch ein anderes: Dass die Alterspyramide ihnen die Zukunft verhagelt. Dass „die Alten“ in der überwältigenden Mehrheit sind, und dass die Generationen der vor 1975 geborenen Parteien gewählt haben, die ihnen versprechen, dass ihnen nichts zugemutet wird. Schlimmer noch: Die ihnen ein „Weiter so“ versprechen.
Genau das wäre aber eine Katastrophe. Wir alle wissen – vermutlich selbst Herr Lindner, wenn er denn mal ehrlich ist – dass der Traum vom ständigen Wachstum ausgeträumt ist. Wir sind zu viele Menschen auf diesem Planeten, als dass jeder tun könnte, wonach ihm der Sinn steht. Und wir tun diesem Planeten nicht nur nicht gut – wir beuten ihn aus, wir verändern das Klima, wir sägen an dem Ast, auf dem wir sitzen. Und das tun wir, weil wir damit rechnen, es nicht ausbaden zu müssen.
Diese Rechnung wird aber vermutlich nicht aufgehen. Wenn die Temperaturen so ansteigen, wie prognostiziert, müssen Menschen meines Jahrgangs schon auf einen Altenheimplatz mit Klimaanlage hoffen. Und alle Generationen, die uns nachfolgen, werden erleben, wie um Wasser und Nahrung und Platz Kriege geführt werden. Sie werden Gottes wunderbare Schöpfung in ihrer Vielfalt nur noch aus antiken Büchern kennen. Und sie werden vermutlich mit so vielen Verboten leben müssen, dass ihnen Chinas Ein-Kind-Politik wie ein liberales Paradies erscheinen wird.
Was also bleibt an diesem Tag nach der Wahl zu sagen? Vielleicht dies: Es liegt immer noch an uns, an jedem einzelnen Menschen, das Schicksal der uns Nachfolgenden zu retten. Politik findet nicht im luftleeren Raum statt – wir können Einfluss nehmen auf das, was Politikerinnen und Politiker tun. Und im Alltag macht jeder von uns den Unterschied – an jedem einzelnen Tag. Wir können BESSER sein als die Regierenden. Mit weniger sollten wir uns nicht zufriedengeben.
Schön geschrieben und treffend analysiert. Als Kind der gleichen Generation mit ein paar Jahren mehr auf dem Buckel, kann ich Vieles bestätigen.